Henriette

oder: Es ist ja nur ein Huhn

 

 

 

Die Geschichte einer Legehenne

 

 


Henriette, eine von Millionen Legehennen in Deutschland... Sie ist "nur ein Huhn", wie viele andere auch... Hier soll sie eine Stimme und ein Gesicht bekommen...

 

 

Henriette am Tage ihrer Befreiung aus Bodenhaltung (12.01.2013)

 

 

 


Henriette in Freiheit,

fast auf den Tag genau ein Jahr nach ihrer Rettung

 

 

 

Ein Tag von vielen...

 

Das Licht geht an. Viele Hennen, viele Gesichter. Sofort rennen alle durcheinander. Wenn das Licht angeht, heißt das, man muss schnell sein. Schnell ausweichen, bevor man gehackt wird. Schnell trinken, um etwas abzubekommen. Schnell fressen, wenn man es ans Futter schafft. Das Licht kommt von langen Röhren an der Decke. Ein anderes Licht ist hier drinnen nicht. Es gibt wohl auch ein draußen. Manchmal  sieht man es kurz, wenn die Tür aufgeht. Manchmal auch nicht. Wenn man gerade unter anderen begraben ist, zum Beispiel. Dann zappelt man. Man hat Angst. Denn man könnte zerquetscht werden. Oder zerhakt. Manchen geht es so. Manchmal liegen sie da. Sie atmen nicht mehr. Oder sie tun es noch. Dann aber nicht mehr lange. Wer einmal liegt, steht meist nicht mehr auf.

Der Rücken und das Hinterteil tut am meisten weh. Dort wird man sehr oft gehackt. Oft blutet es. Es ist so laut. Alle schreien. Weil es so eng ist. Weil alles weh tut. Manchmal schreit man, obwohl man nicht weiß, warum. Einfach weil es auch innen drin so weh tut.

Dann, irgendwann, legt man ein Ei. Irgendwann später geht das Licht wieder aus. Einfach so. Es wird sofort still. Ein paar Stunden. Dann geht es wieder los...

 

 

 

12.01.2013

 

 

Heute ist alles anders. Das Licht geht nicht an. Aber da sind Menschen. Man kann sie hören. Noch nicht sehen. Es dauert lang, aber nach und nach wird es hier drinnen immer leerer. Wohin verschwinden alle? Was machen die Menschen? Man sieht sie jetzt. Sie nehmen uns mit. Überall ist Angst, noch mehr als sonst. Keiner weiß, was passiert. Viele wehren sich, als sie gegriffen werden.

Menschenhände umfassen jeden von uns, dann sitzen wir in Käfigen. Es wird laut und fängt an zu ruckeln. Sonst passiert nichts. Die meisten beruhigen sich wieder. Dann sieht man es: Da ist ein Fenster. Von dem Käfig aus kann man rausschauen. Das ist also draußen... Die meisten sind jetzt ganz still. Sie schauen. Versuchen zu begreifen. Das Draußen verändert sich ständig. Es zieht ganz schnell vorüber. So, als bewege man sich. Aber alle sind still und schauen nur. Trotzdem bewegt sich das Draußen, manchmal schneller, manchmal langsamer. Es ist grau, weiß und blau. Manchmal auch grün.

Auch heute kommt ein Ei. Es muss gelegt werden, auch wenn der Boden so ruckelt.

 

Schließlich hört das Ruckeln auf. Alle springen auf. Was passiert jetzt? Alle rennen und rufen. Dann gehen die Käfige auf. Einige werden gegriffen und wieder in neue Käfige gesetzt. Das dauert lange.

Irgendwann ist kaum noch jemand da. Nur noch ein Käfig. Wieder wird man von Händen gegriffen. Und in einen anderen Käfig gesetzt. Der Käfig bewegt sich. Zwei Menschen tragen ihn. Dann wird es warm. Der Käfig wird auf den Boden gestellt. Daneben drei weitere. In jedem sitzt ein braunes Huhn. Nein, eins liegt. Es atmet noch. Aber nicht mehr lange. Im ersten Käfig, da ist auch etwas. Ein weißes Huhn. Es ist ganz alleine in dem Käfig.

Eine Frau ist dageblieben. Sie redet. Sie redet von Futter und Wasser. Menschenworte versteht man noch nicht so gut. Die Frau geht von Käfig zu Käfig. Sie gibt den beiden braunen Hennen Wasser und Futter. Dann schaut sie in den Käfig mit dem liegenden Huhn. Es hat die Augen schon zu. Die Frau sagt etwas zu dem sterbenden Huhn. Dann geht sie zu dem Käfig mit dem weißen Huhn.

"Du siehst besonders schlimm aus..." sagt sie.

Sie sieht mich an. Nur mich. Ich bin alleine im Käfig, sie kann nur mich meinen. Und erst da begreife ich: Die Füße, die den Boden berühren, das sind meine Füße. Die Flügel, die angelegt sind, sind meine Flügel. Das bin ich.

Die Frau greift in meinen Käfig. Ich schreie und versuche wegzurennen. ich will nicht noch einmal gepackt werden. Aber die Frau packt mich nicht. Sie stellt Schalen in den Käfig. Als sie etwas weg geht, schaue ich nach. Futter und Wasser. Ich trinke und esse schnell. Gleich könnten andere Hühner kommen und mir alles wegnehmen. Oder mich wegdrängeln. Aber keiner kommt. Zwei braune Hühner in den Käfigen neben mir fressen und trinken auch. Das Dritte, das, was liegt, stirbt.

Irgendwann geht das Licht aus. Ganz langsam. Ich werde müde und schlafe ein.

 

 

 

Ein paar Tage später...

 

 

Ich verstehe nun besser, was passiert. Die Frau ist mehrmals täglich bei uns. Sie gibt uns Futter und Wasser. Ich traue ihr nicht. Immer, wenn sie in den Käfig greift, schreie ich und renne weg. Oder ich hacke nach ihr. Lieber hacke ich zuerst nach ihr, bevor sie mir was tut. Aber sie gibt mir immer nur Futter und Wasser. Und sie spricht mit mir.

Hell und dunkel wird es hier nur sehr langsam. Das Licht kommt von draußen, durch ein Fenster. Manchmal geht auch plötzlich im Dunkeln ein Licht an der Decke an. So wie in der großen Halle, wo ich mit den anderen Hühnern war. Dann springe ich schnell auf und will losrennen, bis ich merke, dass ich immer noch alleine in meinem Käfig bin und keiner mir etwas tut.

Das Huhn, das gestorben ist, hat die Frau aus dem Raum getragen. Sie hat zu einem anderen Menschen gesagt, dass sie es beerdigen will. Ich weiß nicht, was das ist. Die Toten lagen dort, wo ich herkam, immer einfach zwischen uns rum...

Unter meinen Füßen ist etwas, was die Menschen "Streu" nennen. Darin kann man Scharren und Baden, ich habe es schon ausprobiert. Das gefällt mir.

 

 

 

Noch ein paar Tage später...

 

Jetzt bin ich schon länger hier. Die beiden braunen Hennen in den Käfigen nebenan sind auch da. Wir haben keine Angst mehr. Denn hier ist es warm. Es wird so schön langsam hell und dunkel. Wir haben Platz, jeder von uns einen ganzen Meter für sich alleine! Das ist toll. Die Frau, die uns Verpflegung bringt (alle nennen sie Jenny), sagt, dass wir bald noch mehr Platz haben werden. Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich habe doch jetzt schon so viel mehr Platz als vorher!

Vor einiger Zeit waren Menschen hier. Eine Familie. Sie haben uns lange angesehen und dann zu Jenny gesagt, dass sie die Patenschaft für mich übernehmen möchten. Ich habe keine Ahnung, was das ist. Aber die Familie war sehr nett.

Die braunen Hennen haben Namen bekommen. Sie heißen Hannah und Klara. Jenny und die Familie geben mir auch einen Namen: Henriette.

Henriette, das bin ich.

 

 

Ein paar Wochen später...

 

Es ist immer noch alles so schön! Jenny kümmert sich um Hannah, Klara und mich. Wir haben alle schon viele neue Federn bekommen.

Wenn Jenny jetzt zu uns kommt, habe ich keine Angst mehr. Ich freue mich. Ich renne ihr dann entgegen. Ich mag es, wenn sie mich streichelt. Manchmal freue ich mich so sehr (und bin auch so neugierig), dass ich Jenny auf den Schoß springe, wenn sie meinen Käfig öffnet. Sie lacht dann und setzt mich sanft zurück. Sie sagt, es dauert nicht mehr lange, dann kann ich ganz raus aus dem Käfig. Noch ist es draußen zu kalt, erklärt sie. Deshalb muss ich drinnen bleiben, genau wie Klara und Hannah. Jenny sagt, wir kennen so kalte Temperaturen noch nicht. Und wir haben zu wenig Federn. Deshalb könnten wir sehr krank werden, wenn wir jetzt schon raus kämen. Jenny sagt, es sei noch Winter. Draußen läge Schnee, der ist kalt und weiß. Sie hat mir den Schnee durch das Fenster gezeigt. Sie sagt, bald ist der Schnee weg. Dann wird alles grün und es wird warm. Dann können wir raus. Zu anderen Hühnern. Es gibt draußen noch mehr von uns. Ich bin aufgeregt. So richtig kann ich mir das alles nicht vorstellen.

 

 

Viele Wochen später...

 

Ich habe schon fast wieder alle Federn. Draußen ist es wärmer. Jenny sagt, wir können heute Abend raus. Ich bin ganz flatterig vor Aufregung.

Abends kann ich kaum einschlafen. Schließlich tue ich es doch. Plötzlich geht das helle Deckenlicht an. Jenny und ihr Freund Vincent tragen Hannah, Klara und mich raus. Draußen! Es ist dunkel. Ich kann das Draußen gar nicht richtig sehen. Aber weiß ist es nicht mehr. Jenny öffnet eine Tür. Hier ist es fast völlig dunkel. Sie setzt mich hin. Ich spüre Stangen unter meinen Füßen.Ich weiß nicht, wo Hannah und Klara sind. Ich habe ziemlich Angst. Rechts und links von mir sind fremde Hennen. Sie blinzeln müde, sie haben wohl gerade geschlafen. Auch sie können mich nicht richtig sehen. Jenny geht und macht die Tür zu. Es ist stockdunkel. Was soll ich jetzt machen? Um mich rum wird es ganz still. Die anderen Hennen schlafen wieder.

Es dauert eine ganze Weile, aber dann schlafe ich auch ein...

 

 

Noch ein paar Wochen später...

 

Ich wohne jetzt schon eine Weile draußen mit den anderen Hennen. Klara und Hannah sind auch da. Wir sind sehr glücklich! Zuerst hatte ich Angst vor den anderen Hühnern, aber dann habe ich gemerkt, dass sie gar nichts tun. Sie haben mich die ersten Tage nur komisch beäugt, aber dann habe sie mich in die Gruppe aufgenommen.

Wenn es Futter gibt, habe ich am Anfang dolle Angst gehabt. Weil ich dachte, die anderen Hennen hacken mich wegen des Futters. So war es ja da, wo ich vorher gewohnt habe. Hier sind auch alle ganz aufgeregt, wenn Jenny das Futter bringt, aber keine hackt.

Hier gibt es auch andere Hennen, die vorher so gelebt haben wie ich. Jenny hat sie schon früher bei sich aufgenommen. Manche leben auch schon nicht mehr. Die anderen Hennen haben mir von ihnen erzählt. Es gibt eine Henne, die sieht mir sehr ähnlich. Sie heißt Josephin. Sie war eins der ersten Hühner, die Jenny gerettet hat. Sie hat noch mehr Federn als ich und ist auch kräftiger. Ich frage mich, ob ich irgendwan auch so schön sein werde. Viele neue Federn habe ich ja schon.

Ich fühle mich so wohl! Jenny hat nicht gelogen. Hier haben wir wirklich viel mehr Platz! Ich kann die Größe gar nicht beschreiben. Und oben, über mir, ist kein Dach. Zumindest kann ich keins sehen. Jenny meint, über mir sei der Himmel. Ich weiß nicht, was das ist. Aber ich mag den Himmel lieber als das Dach von drinnen.

Mitterweile denke ich kaum noch daran, wie es mir früher ging. Manchmal träume ich noch davon. Von Enge. Und Schreien. Und Angst. Und Schmerzen. Aber wenn ich wach werde, sitze ich immer in Jennys Stall zwischen den anderen Hennen und alles ist gut.

 

 

Irgendwann, plötzlich...

 

Seit ein paar Tagen geht es Hannah sehr schlecht. Sie ist krank. Jenny ist ganz verzweifelt. Sie gibt Hannah Medikamente und füttert sie separat. Aber Hannah mag nicht mehr fressen. Innen drinnen ist alles kaputt bei ihr, erklärt sie uns anderen Hühnern. Jenny gibt nicht auf. Sie behandelt sie weiter. Auch sie sagt, dass Hannah innen drinnen kaputt ist. Von der Überzüchtung. Vom vielen Eier legen. Von der schlechten Haltung, bevor sie zu Jenny kam. Irgendwann merkt Jenny, dass sie Hannah nicht mehr helfen kann. Da nimmt sie sie nur noch auf den Arm und weint. Hannah legt ihren Kopf an Jennys Brust.

Später, als Jenny kurz weg ist, stirbt Hannah. Jenny ist ganz fruchtbar traurig. Ich würde ihr gerne sagen, dass sie nicht traurig sein muss. Hannah hat mir gesagt, dass sie so glücklich war und froh ist, dass sie bei Jenny sterben durfte. Und nicht dort,wo wir früher gelebt haben. Wo sie zerdrückt oder zerhackt worden wäre. Oder die Menschen sie irgendwann umgebracht hätten. Und sie war froh, dass sie noch so ein schönes Huhn werde durfte. Mit vollen Federkleid. Und dass sie so viele Monate in Freiheit sein durfte.

Aber Jenny ist zu traurig, sie hört mir nicht zu.

Heute erfahre ich, was beerdigen ist. Ich sehe, wie Jenny Hannah im Garten beerdigt. Ich bin froh, dass Hannah meine Freundin in Freiheit sein durfte.

 

 

Nach einem halben Jahr...

 

Ein Jahr lang lebe ich jetzt schon bei Jenny mit den anderen Hühnern.

Jeder Tag ist schön! Ich sehe mitterweile genauso schön aus wie Josephin. Man kann uns kaum noch unterscheiden, sagt Jenny. Aber natürlich unterscheidet sie uns immer. Sie hat noch kein einziges von uns mit dem falschen Namen angesprochen. Andere Menschen, die zu Besuch kommen, können uns kaum unterscheiden. Aber Jenny kennt jede von uns ganz genau. Wenn ein Huhn krank wird, holt sie es im Käfig nach drinnen. Dort behandelt sie sie wie damals Hannah. Aber kein weiteres Huhn musste sterben. Jenny hat sie alle wieder gesund bekommen. Dann kamen sie wieder zu uns nach draußen.

An einem Tag ist Josephin abends schon früh müde und geht auf die Stange. Sonst geht es ihr bestens. Es geht ihr so gut, dass Jenny nichts merkt.

Im Dunkeln auf der Stange sagt Josephin uns, wie glücklich sie ist. Sie sagt, sie sei jetzt schon ein Jahr und vier Monate bei Jenny. Sie wirkt ganz friedlich.

Als Vincent uns am nächsten Tag rauslässt, ist Josephin tot. Sie ist in der Nacht einfach von der Stange gekippt. Vincent ruft Jenny auf der Arbeit an und erzählt es ihr. Als Jenny nach Hause kommt, beerdigt sie Josephin. Sie ist traurig, aber sie weint nicht viel. Sie sagt, Josephin hatte ein so schönes Leben bei ihr, und das stimmt, finde ich. Sie sagt, Josephins Herz oder ein anderes Organ wird in der Nacht einfach versagt haben. Sie war nie krank und es ging ihr immer gut. Besser konnte es ihr nicht gehen, meint Jenny.

 

 

Nach einem Jahr...

 

Jenny hat seit meiner Rettung schon viele tausend Hennen gerettet. Nun erzählt sie uns, dass sie auch wieder ein paar behalten hat. Drinnen warten drei Hennen. Es ist Winter und kalt. Sie kennen die Temperaturen noch nicht und haben kaum Federn. Deshalb können sie noch nicht zu uns raus, erklärt Jenny uns. Ich bin gespannt auf den Frühling, wenn ich sie kennen lerne. Ein Huhn sieht sie aus wie Josephin und ich, erzählt Jenny. Auf dieses Huhn freue ich mich besonders.

Heute Abend gehe ich als letztes auf die Stange. Ich halte vor dem Eingang zum Stall noch einmal an und betrachte die Sterne. Der Schnee unter meinen Füßen ist kalt. Aber ich spüre Schnee. Ich habe auch Regen kennen gelernt. Und Sonne. Und ich weiß was Spatzen sind. Hunde und Katzen sind meine Freunde geworden. Ich weiß, wie es ist, wenn der laue Sommerwind um meinen Schnabel weht. Und wie es ist, im warmen Sand zu baden. Und nach Würmern zu scharren. Ich weiß, wie schön es ist, an andere Hennen gekuschelt einzuschlafen. Und wie es ist, in Ruhe das Gefieder zu putzen. Ich weiß, wie es sich anfühlt, glücklich und ohne Angst zu sein. Ich denke an meine vielen Schwestern, die Jenny nicht retten kann.

Und ich denke, während ich die Sterne betrachte: Würde ich heute Nacht sterben , einfach so, wie Josephin, dann wäre es nicht schlimm. Denn ich würde glücklich sterben und ohne Schmerzen.

Aber diese Nacht sterbe ich nicht. Und auch nicht nächste. Ich werde noch viele Nächte erleben. Und Tage. Und auch wenn jetzt Schnee liegt, der nächste Frühling kommt. Und der nächste Sommer. In Freiheit.

 

 

 

 

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